Via de la Plata - Lücken schließen

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Ostersonntag 2018


Nach wochenlanger Vorbereitung geht es endlich wieder los. Ich bin letztes Jahr unzählige Stunden zur Krankengymnastik gegangen, habe mir diverse Sprunggelenks-Orthesen zugelegt, habe den Arzt gewechselt und nun doch den Fersensporn spritzen lassen. Ich will mich von meinen Fußproblemen nicht unterkriegen lassen!

 

Uschi kommt dieses Jahr nicht mit. Sie ist noch unschlüssig, ob und wann sie mit mir zusammen nach Santiago laufen will. Dafür hat eine Bekannte, Mutter einer meiner früheren Reitschülerinnen, bei mir angefragt, ob ich sie mitnehmen würde. Und mein Enkel Florian will das Pilgern einmal ausprobieren. Mit Roswitha habe ich dann eine 25km-Probe-Wanderung gemacht und sie hat sie besser absolviert als ich. Ich habe mal leichtere Wanderschuhe ausprobiert und mir prompt zwei Blasen geholt. Seitdem bin ich stolze Besitzerin neuer, ultraleichter Wanderstiefel. Florian will keinen Probelauf. Er ist der Meinung, dass ein 16jähriger Gelegenheits-Fußballer genügend Grundkondition für so einen mehrtägigen Spaziergang hat. Er kommt auch nur für fünf Tage mit, während Roswitha und ich zwei Wochen eingeplant haben.

 

Gestern Abend waren Roswitha und ich noch in der Osternachts-Messe und der Pfarrer hat uns nach dem Ostersegen, in einer feierlichen Zeremonie, den Pilgersegen erteilt. Beim Verlassen der Kirche wurde ich vom Orthopäden angesprochen, bei dem ich jetzt in Behandlung bin. Ihm war in der Kirche aufgefallen, dass ich aktuell etwas humple. Nun, ich bin vorgestern mit den Zehen an ein Stuhlbein angestoßen. Zwei Zehen sind dick und blau. Er untersuchte den Fuß auf dem Kirchen-Vorplatz fachmännisch und diagnostizierte den Bruch dieser zwei Zehen. Behandlung gibt es da keine aber der Arzt meint, dieser neue Schmerz würde mich jetzt vom Fersensporn ablenken.


Habe ich ein Glück!




1. April 2018


Wir brechen frühmorgens auf zum Flugplatz. Es regnet und wir hoffen, dass uns in Spanien besseres Wetter erwarten wird. Ausrüstungsmäßig sind wir für alles gewappnet. Die Anreise führt uns über Madrid und dann per Bus über Salamanca, wo wir umsteigen müssen, weiter nach Baños de Montemayor. Dort will ich starten und die Lücken schließen, die unsere Busfahrten im letzten Jahr hinterlassen haben. Dann kann Uschi sich überlegen, ob sie übernächstes Jahr wieder mitkommen will, wenn ich den Camino bis Santiago fortsetzen werde. Für nächstes Jahr habe ich schon etwas anderes geplant.

 

Am Flugplatz in Madrid haben wir eine gute Stunde Aufenthalt, bis unser Bus nach Salamanca abfährt. Ich nutze die Zeit, um Florian zu zeigen, wo er in fünf Tagen einchecken muss. Er ist zum ersten Mal allein unterwegs, aber das wird er schon schaffen. Im Bus steckt er sofort das Handy in die Ladebuchse und die Kopfhörer in die Ohren. Das unterscheidet eben die Jugend von uns beiden alten Damen. Roswitha, die genauso alt ist wie ich, ist mir in den paar Wochen der Vorbereitungen schon zur lieben Freundin geworden und ich freue mich auf die Wanderung mit ihr. Auch, dass Florian mich einmal zum Pilgern begleitet, bedeutet mir viel! Als wir den Großraum Madrid nach einiger Zeit hinter uns gelassen haben, packt Flo das Handy weg und betrachtet neugierig die Gegend. Ihm fallen die vielen zerfallenen Gebäude auf. Auch ganze Siedlungen gibt es, bei denen die Rohbauten fertiggestellt wurden, jetzt aber dem Zerfall überlassen werden. Die Landflucht ist groß in Spanien.


Während der zweieinhalbstündigen Busfahrt ändert sich das Landschaftsbild. Schneebedeckte Berge tauchen in der Ferne auf, die wir, nachdem wir die weite zentralspanische Ebene mit ihren riesigen Rinderweiden und Feldern hinter uns gelassen haben, bald erreichen und überqueren. Es ist sonnig und warm als wir unser Ziel erreichen. In der Herberge „Via de la Plata“ werden wir bereits erwartet. Ich habe dort für drei Personen in einem Vier-Bett-Zimmer reserviert und hoffe, dass kein vierter Pilger zu uns einquartiert wird. Die Herberge ist in einem sehr alten Gebäude untergebracht, das aber innen modernisiert ist. Florian kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, was man aus so einem alten Haus machen kann. Wir beziehen unser Zimmer und brechen sogleich zu einem ersten Rundgang durch das bei Spaniern immer noch beliebte alte Heilbad auf.

 

Hier haben Uschi und ich im letzten Jahr einen halben Tag Pause eingelegt und sind anschließend mit den Rädern per Bus über das Gebirge bis Salamanca gefahren. Bis dahin wollen wir die kommenden vier Tage laufen, bevor Florian wieder nach Hause fliegt. In einer Bar stärken wir uns mit Bier und ein paar Tapas. Leider verweigert der Wirt uns weitere Köstlichkeiten, die doch so appetitlich angerichtet an der Theke auf uns warten würden. Erst beim Bezahlen unserer Zeche realisieren wir, dass die Tapas eine kostenlose Zugabe zum Bier sind. Da ist es natürlich nur verständlich, dass der Wirt nicht gerade begeistert davon ist, wenn sich seine Gäste bei nur einem Glas Bier an Tapas sattessen wollen.


Der Kellner im Hotel Alegría überschlägt sich dagegen im Bestreben, uns satt zu bekommen. Ständig wuselt er um unseren Tisch herum und schaut, ob wir etwas brauchen. Das liegt vermutlich daran, dass wir die einzigen Gäste sind. So schnell, wie er abräumt und neue Teller bringt, können wir gar nicht essen!

2. April 2018


Für den ersten Wandertag habe ich nur knapp 13 km bis La Calzada de Béjar vorgesehen. Wir müssen immerhin über den Pass Puerto de Béjar und ich will meine beiden Pilgergefährten nicht gleich am ersten Tag kaputt machen. Wir hatten es eigentlich ruhig angehen lassen und erst nach Mittag starten wollen, doch der Wetterbericht stimmt uns um. Für den Nachmittag ist nämlich Regen vorhergesagt. So brechen wir nach dem Frühstück auf und da wir für die kurze Strecke auch keinen Proviant kaufen müssen, wollen wir den direkten Weg von der Herberge zum Camino nehmen. Wir finden aber keine Markierung und landen schließlich auf der Plaza Mayor, wo wir den ersten gelben Pfeil sehen.

 

Die Aussicht zurück aufs Dorf mit dem dahinterliegenden See ist schon grandios und der Aufstieg zum Puerto de Béjar zeigt uns, was in den nächsten Tagen noch alles auf uns zukommen wird. Kurz hinter dem Dorf steht plötzlich ein Mann am Wegesrand, der auf uns zu warten scheint. Er hat nicht nur Ähnlichkeit mit unserem Herbergsvater von letzter Nacht, er ist es sogar und er will noch 15 Euro von uns haben, weil wir in einem Vier-Bett-Zimmer geschlafen haben, aber nur für drei Personen zahlten. Spanische Logik!

 

Der Weg führt durch eine wunderschöne Landschaft immerzu bergauf. In der Ferne, hinter den bewaldeten Hügeln, erheben sich im Osten die schneebedeckten Berge der Sierra de Gredos und im Westen die der Sierra de Francia. Wir kommen gut voran auf dem felsigen Untergrund. Zu unserer Rechten gurgelt tief unten im Tal der Rio Cuerpo de Hombres, was übersetzt Männerkörper heißt. Wie dieser Fluss wohl zu dem Namen gekommen sein mag? Eine halbe Stunde bevor wir Calzada de Béjar erreichen, wird der Weg sehr feucht, wir können aber hier auf eine kleine Asphaltstraße ausweichen. Uns kommt eine alte Frau entgegen und Florian, der vorausmarschiert, wird von ihr angesprochen. Auch wenn er sie nicht versteht, bleibt er doch stehen, hört ihr höflich zu und gibt zu verstehen, dass er kein Spanisch spricht. Die alte Frau wendet sich daraufhin an uns und erzählt, dass sie bei Jorge Eier holen will. Vor lauter Begeisterung über unseren jugendlichen Nachwuchspilger vergisst sie aber ihre Eier, kehrt wieder um und begleitet uns ein Stück. Dabei redet sie unaufhörlich auf Flo ein. Auf dem Camino Francés gibt es mittlerweile viele junge Pilger. Der Jakobsweg hat sich dort inzwischen streckenweise fast schon zur Partymeile entwickelt. Gerade die Gegenden um die größeren Städte, allen voran Pamplona, werden von jungen Leuten gerne angesteuert. Doch hier auf der Via da la Plata scheint es eher noch eine Seltenheit zu sein und einen 16jährigen wird man auf keinem der Wege sehr oft antreffen. Als der Weg auf die Passstraße trifft versichert sich die Seniorin, dass wir auch ja gegenüber in den Feldweg einbiegen. Der Abzweig ist zwar überdeutlich markiert, sie wartet aber, bis wir etwa 50 m weit gegangen sind. Dann geht sie auf der Passstraße bergauf weiter. Ihre Eier hat sie wohl endgültig vergessen.

 

Gleich bei dem ersten Haus des Dorfes handelt es sich um die Pilgerherberge „Alba y Soraya“. Die Herbergsmutter, die uns überschwänglich begrüßt, heißt aber weder Alba noch Soraya, sondern Manuela. Als sie unsere Pilgerausweise studiert und feststellt, dass sie am gleichen Tag Geburtstag hat, wie Roswitha, deren Namen sie in die spanische Form „Rosita“ abwandelt, ist sie ganz aus dem Häuschen. Wir erledigen gleich das Pflichtprogramm, also Wäsche waschen und aufhängen, Bett beziehen und duschen. Heute wasche ich die Socken des Jungpilgers noch mit, ab morgen muss er das selbst machen. Danach machen wir uns auf in die Dorfkneipe auf ein Menú del Día und ein Bier. Flo habe ich weißgemacht, dass man in Spanien Bier erst ab 18 trinken darf und, dass die Spanier da sehr streng sind. Vorerst glaubt er es noch! Nach dem Essen marschiert er zurück zur Herberge, wir beide machen noch einen kleinen Verdauungsspaziergang durchs Dorf. Dabei lernen wir einen Mann kennen, der mit seinen Ziegen und Schweinen spazieren geht. Er ist angeblich 87 Jahre alt und offeriert sich uns als rüstigen Rentner auf Frauensuche. Da tun sich ja gleich am ersten Tag Chancen auf, mit denen wir gar nicht gerechnet hätten!

 

Die Herberge füllt sich im Laufe des Nachmittags noch gut. Manuela erklärt uns, dass sich den ganzen Winter über, kein einziger Pilger zu ihr verirrt hat und jetzt kommen gleich zehn an einem Tag. Außer uns kommen noch drei Deutsche, zwei Engländer und zwei Spanier. Zwei der Deutschen sind etwa fünf bis zehn Jahre jünger als Roswitha und ich, der dritte dürfte fünf bis zehn Jahre älter als Florian sein. Die drei sind in Málaga gestartet, haben sich irgendwo auf dem Weg kennengelernt und sind seitdem gemeinsam unterwegs. Der junge Mann kennt seinen Platz im Leben noch nicht und ist auf Selbstfindungstrip. Der jüngere der beiden anderen Männer erzählt, dass er seine Firma verkauft hat und jetzt von dem Erlös daraus lebt. Als er damit prahlt, dass er damit 10 Mio. Euro Umsatz im Jahr gemacht hat, zieht Florian sich aus dem Gespräch zurück. Ich denke erst, er ist von dieser Summe eingeschüchtert, nehme ihn zur Seite und sage ihm, dass das gar nichts heißen mag. Umsatz ist nicht gleich Gewinn. Doch Florian hat den Mann schon durchschaut und findet es nicht erstrebenswert, sich weiter mit einem Angeber zu unterhalten. Schau an, unser Kleiner! Der dritte Landsmann gibt mit seinem Equipment an. Er hat ein Satellitentelefon mit GPS-Funktion und integriertem Organizer dabei und tippt ständig darauf herum, wobei das ganze etwas unstrukturiert aussieht.

 

Er gibt sich als erfahrenen Pilger aus, da er ja nun seit Málaga schon mehrere Wochen unterwegs ist. Er sucht um Florians Aufmerksamkeit, bietet ihm an, sich bei ihm Tipps für die Wanderung zu holen. Doch Flo lehnt dankend ab und sagt, wenn er Tipps braucht, holt er sich die bei seiner Oma, da die schon viele Weitwanderungen gemacht und sogar Bücher darüber geschrieben hat. Peng, das sitzt! Der Satelliten-Mensch meint erst: „Deine Oma ist aber jetzt ja nicht da!“ und als Flo auf mich deutet und sagt: „Da steht sie doch!“, mustert mich der Typ von oben bis unten und sagt dann unverschämt zu mir: „Du machst Weitwanderungen? Traut man dir gar nicht zu, bei deiner Figur!“ Ich mustere ihn ebenso abschätzend und antworte: „So kann man sich täuschen! Bei deinem Aussehen würde man auch nicht glauben, dass du weißt, wie man so ein Telefon bedient!“ Den sind wir auch los!

 

Abends essen wir alle gemeinsam in der Herberge, dann suchen wir unsere Pritschen auf. Wir teilen uns unseren Schlafraum mit dem jungen, spanischen Pärchen. Die beiden sind auf Hochzeitsreise. Die anderen sind alle im zweiten Schlafraum untergebracht. Der Wetterbericht hatte übrigens recht: es hat den ganzen Nachmittag über geregnet.

3. April 2018


Heute liegen 20 km vor uns. Wir wollen nach Fuenterroble de Salvatierra und dort in der Herberge von Pfarrer Don Blas übernachten. Die Herberge wird im Pilgerführer als Kult-Herberge angepriesen und ich muss unweigerlich an Uschi denken. Für sie wäre das Grund genug, nicht dorthin zu gehen. Ich habe mich in den Kult-Herbergen von Padre Ernesto und von Luiz und Sofia am Küstenweg sehr wohl gefühlt und habe nicht vor, an dieser hier vorbeizuziehen. Ich muss meinen beiden Begleitern schließlich auch was bieten!

 

Die Wolken bringen heute immer wieder Nieselregen mit und nicht überall, wo Wasser fließt, war vorher auch ein Bach. Um die Mittagszeit kehren wir in einer Bar ein, um eine Kleinigkeit zu essen, bzw. um uns ein paar Bocadillos (Sandwichs) für unterwegs zu kaufen. Florian möchte gern weiter. Man merkt ihm an, dass wir für seinen Geschmack zu langsam unterwegs sind. Roswitha geht es aber aktuell nicht gut. Sie sieht aus, als würde ihr Kreislauf gerade schwächeln und ihr Blutdruck in den Keller fahren. Ich biete Flo daher an, dass er allein weitergehen kann. Ich bleibe bei Roswitha. Er kann es erst nicht recht glauben, dass ich ihn so einfach ziehen lasse. Ich habe seiner Mutter immerhin versprochen, ihn heil wieder heimzubringen. Aber, hallo, er ist 16 und weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen! Er spricht englisch, kann sich also verständigen, und wird die Herberge von Don Blas schon finden. Der Weg ist gut beschildert und ich zeige ihm vorsichtshalber noch ein Foto aus dem Pilgerführer. Darauf ist schön zu sehen, dass vor der Herberge ein großer Stein, mit einem darauf eingemeißelten Pilger steht. So stürmt er zur Tür hinaus und lässt uns lahme, alte Weiber zurück, ohne etwas zu essen und ohne Bocadillos für unterwegs. Er weiß halt noch nicht, dass ein zu frühes Ankommen in einer Herberge nicht immer von Vorteil ist und, dass es dort auch nicht immer gleich was zu essen gibt. Nicht alle Herbergen sind so gemütlich, wie die von letzter Nacht. Aber er ist ja zu einer Kult-Herberge unterwegs. Da wird´s schon passen!


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  • Wir folgen ihm nach einiger Zeit deutlich gemächlicher und beschleunigen unsere Schritte erst, als der Regen stärker einsetzt. Nach etwa einer Stunde klingelt mein Handy. Florian warnt uns vor einer Überschwemmung, bei der es angeblich kein Durchkommen gibt und rät uns, auf der Straße zu bleiben. Er ist mit einem Südafrikaner unterwegs, der auf seinem GPS-Gerät eine sichere Strecke ins Dorf gefunden hat. Mit seinem Begleiter zusammen erreicht er Fuenterroble, doch hat der dort ein Zimmer in einer Pension reserviert. Florian sucht dagegen nach der Herberge. Es folgt ein erneuter Anruf: hier steht vor jedem zweiten Haus ein Stein mit einem Pilger drauf! Dann soll er nach Don Blas fragen! Da wird man ihm schon weiterhelfen! Uns beide erwischt auf den letzten Metern noch ein heftiger Regenguss und wir erreichen die Herberge pitschnass.


    Im Vorraum lässt man uns erst mal ewig warten und ein mürrischer Mann, den ich für Don Blas halte, trägt umständlich unsere Namen in eine Liste ein, ehe er unsere Credencials abstempelt. Der Koch, der krampfhaft versucht, ein Feuer im Kamin zu entzünden, weil er zwischen zwei Rosten eingeklemmte Spareribs am offenen Kamin grillen will, macht einen viel netteren Eindruck als dieser Kult-Pfarrer. Wir werden über den Hinterhof in einen fast voll belegten Raum geschickt. Lediglich drei obere Betten sind noch frei. Florian liegt mit einem ziemlich griesgrämigen Gesichtsausdruck in einem der unteren Betten. Nach uns kommt noch ein älterer Mann an und bittet Florian, ins obere Bett umzuziehen, weil er in seinem Alter da nicht mehr hinaufkommt. Flo tut zwar, worum man ihn gebeten hat, aber ich sehe ihm an, dass er angefressen ist. Vermutlich ist er hungrig. Als ich ihn darauf anspreche, sagt er nur: „Warte, bis du unter der Dusche stehst! Ob du dann auch noch so gut drauf bist!“ Ich ahne Schreckliches!

     

    Ich muss wieder an Uschi denken und ihr ausnahmsweise insgeheim recht geben. Diese Herberge ist schrecklich. Der Kult hier scheint nur in der Masse der betreuten Pilger zu bestehen. 85 Menschen finden hier ein Bett für die Nacht, in insgesamt 11 Schlafräumen. Heute sind weitaus weniger Pilger da, vielleicht 12, und man hält es nicht für nötig, uns auf zwei Schlafräume aufzuteilen, damit wir wenigstens ein bisschen mehr Platz haben, sondern pfercht uns alle zusammen in einen Raum. Bett steht an Bett, die unteren können ihre Rucksäcke wenigstens unters Bett schieben. In den oberen Betten kannst du sie nur an den Bettpfosten hängen. Dann baumeln sie allerdings den unteren Schläfern ins Gesicht. Im hinteren Teil des Raumes brennt ein Ofen und die männlichen Pilger fühlen sich berufen, ständig Holz nachzulegen. Es ist bereits jetzt sehr stickig im Raum. Wie wird das wohl in der Nacht werden?

     

    Das Wasser in den Duschräumen ist tatsächlich kalt und ich entschließe mich zur Katzenwäsche. Die Klamotten werden auch nur kurz durchs kalte Wasser gezogen und bevor wir ins Dorf gehen, um nach einer Bar zu suchen, in der wir uns aufwärmen können, spanne ich meine Wäscheleine über den Ofen und hänge unsere Wäsche zum Trocknen auf. Als wir eine Stunde später wieder zurückkommen, hat jemand unsere Wäsche abgenommen und auf verschiedene Bettpfosten verteilt. Auf meiner Leine hängen jetzt Männerunterhosen, Socken und ein Männerhemd. Ich stelle jedem, der fragt, gerne die Wäscheleine zur Verfügung, die ich auf allen Wanderungen im Rucksack dabeihabe. Aber ungefragt einfach meine noch feuchte Wäsche abnehmen und die eigene draufhängen – das geht gar nicht. Gerade als ich die fremde Wäsche von meiner Leine nehme, kommt deren Besitzer in den Raum, sieht, was ich da mache, und beschwert sich lautstark, dass der Ofen für alle da ist. Ich bin natürlich nicht so rücksichtslos, den Ofen die ganze Zeit zu blockieren und lasse meine Wäsche gern anderswo resttrocknen. Das erkläre ich ihm auch. Aber auch, dass dies meine Leine ist, die ich jetzt an mein Bett spanne, damit ich meine Wäsche dort aufhängen kann. Er kann seine Wäsche jetzt ja ans Ofenrohr hängen oder auf die Herdplatte legen. Ich spanne meine Leine dann sogar zwischen mehreren Betten auf, lange genug ist sie ja, und jeder der Bettenbewohner darf seine Wäsche draufhängen.

     

    Zum Abendessen treffen wir uns alle im Speisesaal. Es ist bitterkalt dort und das Essen spottet jeder Beschreibung. Suppe und Salat sind zwar okay, aber an den sogenannten Spareribs ist fast kein Fleisch und das wenige, was dran ist, ist kalt und roh. So kuscheln wir uns nach dem Essen nicht nur frierend, sondern auch hungrig in unsere Schlafsäcke. Die Nacht wird wie erwartet stickig und stinkig, während der Regen unaufhörlich gegen die Fenster prasselt.


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  • 4. April 2018


    Um 7:30 Uhr gibt´s Frühstück und als der Koch uns danach zum Abschied segnet, realisiere ich, dass er gar nicht der Koch, sondern der Pfarrer ist. Don Blas ist also doch ein freundlicher, liebenswerter Zeitgenosse und nicht dieser mürrische Kerl, der uns gestern in Empfang genommen hat. Egal, diese Kultherberge wird mir ewig als ungemütlich und ungastlich in Erinnerung bleiben.


    Der Tag beginnt, wie er gestern endete: kalt und nass! Die erste Hochebene liegt vor uns und wir werden heute den Pico Dueño besteigen. Regen und trockene Perioden wechseln einander ab. Hin und wieder lugt auch einmal eine trübe Sonne zwischen den Wolken hervor. Kurz nach Verlassen des Dorfes biegt der Weg von der Asphaltstraße ab und führt ab jetzt auf einem breiten Grasstreifen über eine weite Ebene. Rinderweiden, soweit man schauen kann, der Horizont verschwindet in Nebel und Wolken. Der einzige Halt für das Auge sind die Weidezaun-Pfosten rechts und links des Weges. Die Regenpfützen lassen sich anfangs noch auf großen Feldsteinen trockenen Fußes überqueren, doch irgendwann ist Schluss mit lustig. Die Überschwemmung reicht über den Weg hinaus bis weit in die Weiden hinein. Der Zaun lässt sich, da Stacheldraht, nicht überwinden und es würde eh nichts bringen. Jetzt heißt es Schuhe und Strümpfe ausziehen und hindurchwaten. Ich gehe voran und suche die beste Stelle für die Durchquerung, an der mir das Wasser locker bis über die Knie reicht. Die Hose bleibt bei Florian und mir zum Glück trocken. Roswitha ist leider um einiges kleiner als wir beide! Doch glücklicherweise findet sie eine bessere Furt als ich.


    Den „Berg“ sehen wir auch als wir zum Aufstieg ansetzen noch nicht. Der Weg zum „Gipfel“ zieht sich in die Länge. Dadurch ist der Aufstieg zwar nicht steil, aber dennoch sehr ermüdend. Nach zwei Stunden erreichen wir die ersten Windkrafträder, von denen wir im Laufe der nächsten Stunde wohl an die 50 Stück passieren. Der Nebel lichtet sich etwas und wir sehen unten im Tal mehrere große Fincas und wieder riesige Weiden, diesmal mit Schweinen drauf. Oben gibt es dann sogar ein richtiges Gipfelkreuz und eine Jakobusstatue. Der Abstieg ins Tal ist dann doch recht steil und anstrengend und meine gebrochenen Zehen machen sich erstmals bemerkbar.


    Als wir den Fuß des Pico Dueño erreichen hört der Nieselregen auf, der uns schon seit Stunden begleitet, und wir finden ein halbwegs trockenes Plätzchen für eine ausgedehnte Mittagsrast. Wir sind inzwischen ordentlich hungrig und essen alles auf, was wir dabeihaben. Lediglich die Müsliriegel heben wir uns auf. Man weiß nie, was der Tag noch bringen wird. Während unserer Pause ziehen unsere drei Landsleute an uns vorbei, aber seit dem Aufenthalt in der Herberge Alba y Soraya grüßen sie nur noch wortkarg.

    Der Weg zieht sich noch endlos und Florian ist es anzusehen, dass er lieber schneller laufen würde, doch er bleibt heute brav an unserer Seite. Demnach hat er schnell gelernt, dass nach einem langen Wandertag ein zu frühes Ankommen in einer kalten Herberge nicht zu empfehlen ist. Ich hoffe, dass wir heute der Kälte entgehen. Ich habe uns nämlich in einer Pension in San Pedro zwei Zimmer reserviert. Auf eine ungemütliche Herberge kann ich gerne verzichten.


    Am späten Nachmittag hört der Regen ganz auf und der Himmel belohnt uns mit einer einzigartigen Stimmung. Wir verlassen den markierten Weg und biegen auf einen Feldweg ins zwei Kilometer entfernte San Pedro ein. Kurz bevor wir in San Pedro ankommen, knicke ich mit dem linken Fuß um. Irgendwas verhakt sich dabei, nach ein paar Schritten geht es aber wieder. Die Pension finden wir schnell und die freundliche Wirtin zeigt uns unsere Zimmer, stopft unsere schmutzige Wäsche in die Waschmaschine und klärt Florian später nicht nur darüber auf, dass man in Spanien sehr wohl auch unter 18 ein Bier trinken darf. Sie übt sogar mit ihm, wie man auf Spanisch ein Bier bestellt! Der Blick, den ich daraufhin von ihm ernte, spricht Bände! Die Zimmer sind gut, das Wasser im Bad ist richtig heiß, nur die Heizung im Zimmer von Roswitha und mir ist kaputt. Wir bekommen aber einen Öl-Radiator zur Verfügung gestellt.

     

    Als ich mich nach dem Abendessen von meinem Stuhl erhebe, fährt der Schmerz stechend in meinen linken Fuß. Nur mühsam komme ich ins obere Stockwerk und in mein Bett. In der Nacht wache ich wegen der starken Schmerzen mehrfach auf und schlucke mehrere Voltaren-Tabletten. Der Fuß ist am Knöchel stark geschwollen. Ich trage dick Kytta-Salbe auf, ziehe die Orthese an und hoffe, dass die Schmerzen bis zum Morgen wieder weg sind.


  • Birthday Sparks

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  • 5. April 2018


    Die Schmerzen sind natürlich nicht über Nacht verschwunden! Wie denn auch? Schließlich sind sie doch erst über Nacht gekommen! Ich kann kaum laufen und humple auf meine Stöcke gestützt zum Frühstück. So kann ich auf gar keinen Fall weiter und habe in der Nacht sogar überlegt, ob es nicht besser wäre, abzubrechen und mit Florian nach Hause zu fliegen.


    Doch der neue Tag bringt neue Zuversicht! Ich bleibe! Während des Frühstücks befrage ich das Internet und erfahre, dass es von Montag bis Freitag eine Busverbindung nach Salamanca gibt. In einer Stunde ist Abfahrt. In zwei Stunden fährt der nächste. Ich frage die Wirtin nach der Bushaltestelle und erfahre, dass der Bus, der in einer Stunde fahren soll, der Schulbus ist. Aktuell sind Osterferien, da fährt er nicht! Und die andere Busverbindung ist nicht Montag bis Freitag, sondern Montag und Freitag. Heute ist Donnerstag! Der Wirtin ist nicht entgangen, dass ich derzeit behindert bin, und da sie auch nach Salamanca muss, bietet sie mir an, uns in die Stadt mitzunehmen. Florian erklärt sofort, dass er als Pilger nach Spanien gekommen ist und deshalb weder Bus noch Auto fahren will. Er will pilgern und zieht fast augenblicklich allein los! Ich bin sprachlos!

     

    Nun die Wirtin ist nicht ganz so schnell und lässt uns eine ganze Stunde warten, eh sie uns zunächst unsere frisch gewaschene, aber noch pitschnasse Wäsche aushändigt, und uns dann in ihr Auto packt. Beim Ausparken fährt sie einem anderen Auto mal eben den Außenspiegel weg, doch uns setzt sie bald darauf wohlbehalten an der Puente Romano in Salamanca ab. Die Schmerzen im Fuß sind beim Aussteigen aus dem Auto wie weggeblasen, doch um nicht als Betrügerin dazustehen, stütze ich mich weiterhin schwer auf meine Stöcke, bis die Wirtin außer Sichtweite ist. Wir suchen das Hostal Sweet Home Salamanca, wo ich uns wieder zwei Zimmer reserviert habe, und deponieren dort unsere Rucksäcke. Ich denke, es war die richtige Entscheidung, heute nicht zu laufen. Und auch morgen werden wir uns einen Pausentag gönnen, da wir die erste Lücke auf der Via de la Plata geschlossen haben. Übermorgen wird es in Puebla de Sanabría weitergehen.

     

    Während wir uns mit Kaffee und Kuchen die Zeit vertreiben und die Kirche San Marcos besichtigen, die mit ihrem kreisrunden Grundriss zu den Besonderheiten Salamancas gehört, wandert unser Nachwuchspilger zunächst einmal zwei Kilometer in die falsche Richtung. Schließlich kommen ihm die ersten Pilger entgegen und weisen ihm den rechten Weg. Dadurch verlängert sich seine Tagesetappe von 22 auf 26 km. Trotzdem erhalte ich nach nicht ganz vier Stunden von ihm einen Anruf, in dem er mitteilt, dass es kurz vor Salamanca ist und wir uns zum vereinbarten Treffpunkt, der Puente Romano, begeben sollen.


    Wir warten noch nicht lange an der Brücke, als der nächste Anruf kommt. Leicht panisch teilt mir der Jungpilger mit, dass er sich erneut verlaufen hat. Er findet keine Pfeile mehr. Ich frage ihn nach dem Namen der Straße, in der er sich augenblicklich befindet und erfahre den Namen des Hotels, vor dem er steht. Via Telefon und Google Maps lotse ich ihn die paar Meter zum Fluss und sehe ihn nach nur wenigen Sekunden. Winkend kommt er auf uns zu, die leere 2-Liter-Wasserflasche in der Hand, fällt mir um den Hals und sagt: „So, jetzt könnt ihr mich mal!“ Wenigstens hatte er für seinen letzten Pilgertag richtig gutes Wetter mit strahlendem Sonnenschein und deutlich höheren Temperaturen als in den vergangenen Tagen und als Belohnung bekommt er auf einem der vielen schönen Plätze ein großes kühles Bier und eine ordentliche Portion Paella. Kurz ist er noch einmal irritiert als plötzlich die Polizei hinter ihm auftaucht, doch dann zischt das Bier die ausgetrocknete Kehle hinunter.

     

    Den Nachmittag verbringen wir getrennt. Roswitha und ich schauen uns Salamanca von oben und unten an, Flo verbringt die nächsten Stunden im Bett und zieht dann allein durch die Stadt. Für die Kathedrale habe ich Eintrittskarten, doch deren Besuch habe ich Florian freigestellt. Um so mehr überrascht es mich, ihn zum Besichtigungstermin bereits auf den Stufen der Kathedrale anzutreffen. Den Abend lassen wir in einer Bar ausklingen und begleiten den „Wahren Pilger“ schließlich in die Unterkunft. Das Pilgern zu dritt ist hiermit beendet!

    6.April 2018


    Ab jetzt pilgern nur noch wir zwei Damen. Der Jungpilger ist seit 11:00 Uhr mit dem Bus unterwegs zum Flughafen. Kurz vor Madrid bricht bei ihm noch einmal die Panik aus, weil „dieser Vollpfosten von Busfahrer“ in einen Stau geraten ist. Dennoch erreicht er seinen Flug rechtzeitig. Ob er nochmal pilgern wird, kann man nicht sagen! Das Reisen hat er dadurch aber entdeckt! Und das finde ich gut! Die jungen Leute sollen was sehen von der Welt, über den eigenen Tellerrand hinausblicken und den Horizont erweitern.


    Roswitha und ich fahren derweil per Bus nach Zamora, deponieren dort unsere Rucksäcke in einem Schließfach am Bus-Bahnhof und besichtigen dann alles, was man in Zamora besichtigen kann. Das Wetter zeigt sich auch heute von seiner besten Seite und wir verbringen angenehme Stunden in dieser schönen Stadt. Als wir dann am Abend mit dem Zug nach Puebla de Sanabría fahren, regnet es bereits wieder. Wenigstens an unseren Pausetagen hatte Petrus ein Einsehen mit uns!


    Ich habe in Puebla wieder im Hotel Viktoria ein Zimmer reserviert. Ich will meine Schulden vom letzten Jahr bezahlen. Booking.com hat nämlich, wie erwartet, nichts abgebucht und ich will nicht, dass „die Paula“, wie ich die Betreiberin des Hotels scherzhaft nenne, auf meiner Zeche sitzenbleibt. Ich habe ihr das bei der Buchung auch bereits mitgeteilt. Sie erwartet uns lachend und fragt, ob alle Deutschen so blöd sind, und ob ich wirklich eine Zeche zahlen will, die sie längst schon abgeschrieben hat. Ja, ich will! Bevor ich nicht das Zimmer vom letzten und das von diesem Jahr bezahlt habe, setze ich keinen Fuß ins Haus! Dann frage ich sie noch nach ihrem Namen und sie sagt doch tatsächlich: Paula!


    Später fiebern wir in der Kneipe gegenüber mit dem Wirt beim Fußballspiel mit, nachdem wir uns erkundigt haben, für welche Mannschaft wir die Daumen halten müssen, und bekommen dafür ein paar Tapas geschenkt. Nur das Bier und die Muscheln müssen wir zahlen und kommen erst gegen ein Uhr ins Bett.

    7. April 2018


    Der zweite Teil des Pilgerns beginnt. Wir haben am Vormittag noch Zeit, uns das kleine Städtchen mit seinem Burgberg anzusehen. Die ursprünglich für heute geplante Etappe teilen wir, weil sie sonst mit fast 30 km zu lang wäre. Ich will es im Hinblick auf meinen Fuß nicht übertreiben und schließlich müssen wir auf der Etappe über den Pass von Padornelo. Aber nun eben erst morgen!


    Wir wandern gegen Mittag los und finden den Camino Sanabrés stark überflutet vor. Immer wieder werfen wir große Steine ins Wasser, um dann darüber zu balancieren. Im Sumpf ist schließlich kein Vorwärtskommen mehr und wir weichen auf eine nahegelegene Straße aus. Kurz vor dem Tagesziel, dem Dorf Requejo, rasten wir unter dem Vordach der Kapelle von Teroso und da die Sonne gerade zwischen den Wolken hervorlugt, dehnen wir die Pause ordentlich aus. Um 15:30 Uhr erreichen wir Requejo und quartieren uns in einer privaten Herberge im Gemeinschaftsraum ein. Es gäbe zwar auch ein Doppelzimmer, aber das ist eigentlich nur ein Bau-Container, der mitten im Gemeinschaftsraum steht. Der Container hat keine Fenster und ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, im eigenen Gestank zu schlafen. Bei den verschwitzten Klamotten. Es ist bereits eine französische Pilgerin in der Herberge, die heftige Fußprobleme hat und seit Tagen Schmerztabletten schluckt. Aufgeben will sie aber nicht, obwohl sie durch die Schmerztabletten auch schon starke Verdauungsprobleme hat. Ich bin echt froh, dass meine Schmerzen auch ohne weitere Tabletten verschwunden sind. Aber die Orthese trage ich seitdem brav.


    Zum Essen gehen wir am Abend in ein Restaurant etwas außerhalb des Dorfes, das uns die Vermieterin empfohlen hat. Ich rechne fest damit, die Vermieterin auch als Restaurant-Besitzerin anzutreffen, aber ich irre mich. Bei den beiden alten Leutchen handelt es sich wohl um ihre Eltern. Eine Speisekarte gibt es nicht, der betagte Wirt rattert eine Liste mit Speisen herunter. Ich verstehe nur Forelle und Roswitha beschließt, dass wir dann heute Forelle essen. Es gibt Pommes und Blumenkohl dazu und in der Wirtsstube ist es derart kalt, dass wir uns mit dem Essen sehr beeilen. Zurück in der Herberge ist derweil das Pärchen auf Hochzeitsreise, das wir von Alba y Soraya her kennen, in den Bau-Container eingezogen. Mit ihren Fahrrädern sind sie deutlich schneller als wir und auch schneller als ich im letzten Jahr war.


    Mittlerweile beneide ich die beiden um ihren fensterlosen Bau-Container. Im eigenen Gestank schläft es sich sicher besser als in den Ausdünstungen der schmerzgeplagten französischen Pilgerin mit ihren Verdauungsproblemen. Die Hospitalera dieser privaten Herberge schaut gegen 22:00 Uhr nochmal nach dem Rechten und sperrt, als sie wieder geht, die Haustür hinter sich ab. Sie schließt uns praktisch ein. Das mag ich gar nicht und öffne deshalb die Tür, die hinten zum Garten hinausführt.

    8. April 2018


    Um 7.00 Uhr klingelt ein Wecker. Es ist stockdunkel und ich drehe mich im Bett nochmal um. Als wir dann eine halbe Stunde später aufstehen, finde ich den Schlüssel für die Haustüre an einem Haken neben der Tür. Wir frühstücken in der Bar neben der Herberge und brechen dann auf.


    In Galizien wird schon seit einer Ewigkeit sowohl an der Autobahn als auch an der Schnellbahnlinie Madrid – Santiago gebaut. Bereits bei meiner letzten Etappe auf dem Camino del Norte im Jahr 2010 musste man an mancher Stelle den Camino verlassen und wurde um Baustellen herumgeleitet. So auch hier auf diesem Teilstück. Durch die Bauarbeiten sind wir gezwungen, etwa zehn Kilometer weit auf der alten Nationalstraße N525 zu laufen. Ich komme mir fast vor wie im letzten Jahr, als wir mit dem Rad bereits weite Strecken auf dieser Nationalstraße anstatt auf dem Camino zurückgelegt haben.


    Eine ganze Woche sind wir jetzt schon unterwegs und es ist immer noch kalt und regnerisch. Für die Strecke bis zum Pass hinauf brauchen wir gute zwei Stunden und überholen dabei die Französin, die am Morgen zusammen mit uns die Herberge verlassen hat, aber ohne Frühstück gleich losgelaufen ist. Kurz vor dem Pass müssen wir durch einen Tunnel und als wir auf der bergzugewandten Seite wieder herauskommen, trauen wir unseren Augen nicht. Es schneit! Wir sind völlig durchfroren und da es sowieso schon auf Mittag zugeht, kehren wir im Hotel Padornelo oben am Pass ein und gönnen uns ein Mittagessen. Die Französin schließt sich uns an und es kommt eine angeregte Unterhaltung zustande. Als wir später wieder aufbrechen, verlieren wir sie aber irgendwie und sollen sie an diesem Tag auch nicht noch einmal sehen.


    Der Abstieg verläuft zunächst noch ein Stück auf der N525, verlässt diese aber bald und führt durch eine wunderschöne Landschaft. Es schneit immer weiter, weshalb heute erstmals die Handschuhe zum Einsatz kommen. Bereits um 13:45 Uhr beenden wir unsere heutige Wanderung im Dorf Lubián. Ich habe hier in einer Pension ein Zimmer reserviert und bin bei diesem Wetter froh, dass die Etappe so kurz ist. Anstrengend genug war sie ja mit der Pass-Überquerung.


    Im Wald, kurz bevor wir Lubián erreichen, sichtet Roswitha inmitten einer Herde halb verhungerter Rinder, ein Tier mit grauem Fell. Ich verstehe natürlich sofort, was sie glaubt, gesehen zu haben und mache mich lustig über den Wolf. Doch in Lubián angekommen, kommen mir, angesichts der vielen Skulpturen im Dorf, erste Zweifel. An jeder Ecke stehen steinerne Wölfe, jeden Gartenzaun schmückt eine Wolfs-Silhouette und am Dorfbrunnen speien gleich drei Wölfe Wasser in den Brunnentrog. Auch die Wirtin unserer Pension verweist auf die Herkunft des Namens dieses Dorfes: Lubián kommt von Lobo oder Lupus – der Wolf!


    Wir haben ein sehr schönes, weil warmes, Doppelzimmer in dieser Pension. Auch das Wasser im Bad ist richtig heiß. Dagegen ist es im Salon eiskalt, obwohl man dort einen offenen Kamin einheizen könnte. Nach etwa einer Stunde schaltet allerdings die Heizung im Zimmer auch ab und es wird schnell merklich kälter. Wir wollen uns dieses Dorf der Wölfe ein bisschen genauer anschauen und die Hauswirtin gibt uns einen wertvollen Tipp.


    Im Restaurant an der Hauptstraße müsste man um diese Uhrzeit noch ein spätes Mittagessen erhaschen. Nun, es ist 17:30 Uhr und wir machen kurzerhand ein frühes Abendessen daraus. Die Menü-Planung überlasse ich der Wirtin des Restaurants und sie bringt nach kurzer Zeit zwei Teller Suppe. Kaum haben wir diese vertilgt, stellt sie eine große Platte mit mehreren Schnitzeln, Pommes, Kartoffelsalat und Nudelsalat vor mich hin. Ich schiebe die Platte in die Mitte des Tisches und wir warten auf die Teller. Sie kommt aber mit einer weiteren Platte an, die das gleiche Angebot enthält, schiebt die erste Platte wieder zu mir hin und stellt die zweite vor Roswitha. Wer soll das alles essen? Die Wirtin sagt, wir sähen hungrig aus. Wir teilen uns meine Platte, lassen uns die von Roswitha einpacken und ich verlange die Rechnung. Die Wirtin schaut mich verdattert an und bringt statt der Rechnung den Nachtisch. Als wir auch damit fertig sind, traue ich mich eigentlich gar nicht, noch einmal um die Rechnung zu bitten, aber irgendwie müssen wir ja mal aufhören und zahlen. Die Wirtin weiß aber auch, wann´s genug ist und bringt uns unaufgefordert – zwei Schnäpse. Als wir das Lokal dann doch noch irgendwann verlassen, muss man uns zur Tür hinausrollen.


    Wir kugeln direkt bis zur Pension und schieben uns gegenseitig die Treppe hinauf. Das Zimmer ist dank Intervall-Heizung wieder kuschelig warm und wir liegen um 21:00 Uhr in den Betten. Doch so vollgefressen schläft man nicht gut. Roswitha behauptet, in ihrem Bett krabbelt etwas. Flöhe oder Wanzen. Wir nehmen das ganze Bett auseinander und können nichts finden. Daraufhin hört die Krabbelei auf. Gleich drauf bilde ich mir ein, dass bei mir was kribbelt. Aber auch das sind offenbar nur die Nerven. Als die sich endlich beruhigt haben, klingelt Roswithas Handy im Viertelstundentakt. Roswitha ist bei uns in der Vorstandschaft der Kath. Frauengemeinschaft und unser Pastoralreferent hat seinen Schäfchen wohl dringende Mitteilungen zu machen. Um 23 Uhr schaltet Roswitha das Handy aus. Nun ist endlich Ruhe!


    Unser opulentes Abendmahl hat übrigens für uns beide komplett, inklusiv Getränke, 23 € gekostet.

  • Essen für Ausgehungerte

    Photo By: John Doe
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  • 9. April 2018


    Wir wachen gegen 7 Uhr auf, ganz ohne Bisse oder Stiche. Um 7:30 Uhr gibt es Frühstück, danach packen wir unsere Siebensachen zusammen. Als wir das Haus verlassen, finden wir draußen eine geschlossene Schneedecke vor. Das habe ich in Spanien auch noch nicht erlebt. Dass es im April viel regnen kann, weiß ich. Aber Schnee? Vor drei Jahren hatten wir um die gleiche Zeit 40°C. Allerdings im Süden, in Andalusien.


    Der Weg hinab zur Kirche Tuiza ist aufgeweicht und rutschig, doch der Aufstieg zum 1260 m hoch gelegenen Pass A Canda führt uns durch eine traumhafte Winterlandschaft. Um uns herum ist der Ginster, Thymian und Rosmarin kurz vor der Blüte. Die Knospen sehen so aus als würden sie jeden Moment aufbrechen, was sie bei dieser Kälte sicher nicht tun werden. Schade, als wir im letzten Jahr mit dem Zug durch diese Gegend hier kamen, leuchteten die Berghänge blau, violett und gelb und ich hatte gehofft, jetzt durch diese Blütenpracht wandern zu können. Aber Schnee ist auch was Schönes und man schwitzt nicht so stark!


    Am Pass ist es sehr windig und wir halten uns nur kurz für ein Foto auf und gehen dann gleich weiter. Nach einem Kilometer finden wir im Dorf A Canda ein windgeschütztes Sitzplätzchen auf einer alten Eisenbahnschwelle. Es gibt in dem Dorf auch einen wirklich schönen Rastplatz mit einer Wasserstelle. Doch dort pfeift der Wind durch. Wir essen Roswithas gestriges Abendessen, dazu Magdalenas, zwei Müsli-Riegel und Gummibärchen. So gestärkt laufen wir bis Vilavella, wo es einen Lebensmittelladen, eine Bar und ein SPA-Hotel geben soll. Die Bar finden wir schnell und zielsicher, doch leider ist heute Montag. Und Montag ist Ruhetag!


    Eine Frau erklärt uns den Weg zum Lebensmittelladen, der aber bald schließen wird. Es gäbe da oben an der Straße zwar „noch so was“, aber sie wisse nicht recht, was genau das ist! Nun, das, was es da oben noch gibt, ist das SPA-Hotel, in dem wir uns frisch machen, Kaffee und Kuchen bekommen, später auch ein Bier, und uns richtig gut erholen. Die Frau von vorhin ist nun auch mutig genug, einen Blick zu riskieren und die Bar zu betreten. Schließlich sitzen mit uns ja nun schon zwei Bekannte von ihr da!


    Der Weg zieht sich heute, was bei 28 km aber auch keine von uns beiden wirklich erstaunt. Am Nachmittag wird das Wetter auch besser und bei Sonnenschein und angenehmen Temperaturen ziehen wir durch eine wunderschöne Heidelandschaft. Dabei wandern wir an etlichen Viehweiden vorbei, allesamt mit Maschendraht eingezäunt. Das Vieh auf diesen Weiden wird stets von mehreren großen Herdenschutzhunden bewacht, und spätestens jetzt zweifle ich nicht mehr daran, dass das, was Roswitha gestern gesehen hat, tatsächlich ein Wolf war.


    Je länger unsere heutige Wanderung dauert, desto langsamer werden unsere Schritte. Die letzten Kilometer führen auf Asphalt bergab. Müde, hungrig und ausgelaugt erreichen wir A Gudiña, das sich als hässliches Dorf entpuppt, entstanden im Zuge der Bauarbeiten zu Autobahn und Schnellbahntrasse. Es erinnert stark an die in Kanada und Alaska während des Goldfiebers entstandenen Siedlungen.


    Die Pension, die ich während unseres Aufenthalts im SPA-Hotel via Smartphone gebucht habe, erweist sich nicht gerade als die beste Wahl. Das Zimmer ist kalt, das Wasser lauwarm. Das Essen ist dagegen gut und reichlich. Als wir dann nach dem Abendessen wieder aufs Zimmer kommen, ist dieses dann auch warm. Auch hier schaltet die Heizung viertelstündlich ein und aus.

  • A Gudiña

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  • 10. April 2018


    Wir frühstücken um 7 Uhr beim Nachbarn, weil unser Wirt noch nicht aufstehen mag. Bevor wir dann diesen ungastlichen Ort verlassen, suchen wir noch die Bank und ein Geschäft, wo wir Wasser kaufen können. In der Nacht hat es wieder geschneit. Die Hügel um uns herum tragen alle eine weiße Krone. Es ist kalt und unser Weg wendet sich wieder den Bergen zu.


    Stundenlang stapfen wir durch den immer stärker rieselnden Schnee. Auf dieser Höhenstraße soll man einen wundervollen Blick über die umliegenden Täler haben. Auf der rechten Seite müsste ein gigantischer Stausee liegen. Wir sehen dagegen nur Schnee und Nebel, und immer wieder die zwei gleichen Beton-LKWs, deren Fahrer uns bald schon freundlich grüßen, wann immer sie uns überholen oder uns entgegenkommen.


    In der Ferne taucht ein Bushäuschen auf und wir freuen uns auf eine Pause unter dem schützenden Dach. Doch leider stellen wir enttäuscht fest, dass dieses Dach sehr löchrig ist und am Boden das Wasser kniehoch steht. So ziehen wir weiter durch eine Ansammlung halb verfallener und doch teils bewohnter Häuser. Es ist eine trostlose Gegend, durch die wir hier wandern. Doch dann reißt plötzlich die Wolkendecke auf und er liegt direkt vor uns: der Stausee. Muss das ein Anblick sein, wenn hier alles blüht! Die Hügel sind übersät mit Sträuchern aller Art: Ginster, Rosmarin, Heidekraut, Thymian, Salbei, und dazwischen immer wieder Mimosen. Schade, dass uns diese Blütenpracht versagt bleibt!


    Gegen Mittag entdecken wir einen Bahnhof, was uns veranlasst, unsere Schritte zu beschleunigen. Endlich ein warmer Unterschlupf. Wir hoffen auf eine Sitzgelegenheit in der Schalterhalle. Doch beim Näherkommen macht das Gebäude einen sehr heruntergekommenen Eindruck und wir müssen uns mit einer Bank unter dem Vordach begnügen. Das Betreten des Bahnhofs ist wegen Einsturzgefahr verboten. Wenigstens ist es hier ein wenig windgeschützt. Das dazugehörige Dorf hat diese Bezeichnung auch nicht wirklich verdient. Und doch sind ein paar wenige Häuser noch bewohnt. Später am Tag sollen wir sogar den Eigentümer des „schönsten“ Hauses dieser zerfallenen Ansiedlung kennenlernen.

    Beim Abstieg nach Campobecerros zeigt sich uns erstmals das ganze Ausmaß der Zerstörung durch den Bau der Schnellbahntrasse. Mag die Wirtschaft dieser Region auch durch die Verbesserung der Infrastruktur gewinnen, wo wird es wohl lange Zeit dauern, bis sich die Natur von den Wunden, die man ihr hier zufügt, wieder erholt haben wird.

    In Campobecerros steuern wir zuerst die Bar Rosario an, in der man sich für eine Übernachtung in der Herberge anmelden muss. Dort treffen wir die Französin wieder und während wir uns erst einmal einen Kaffee gönnen, kommt Geißenpeter von der Alm herunter und treibt seine Herde Ziegen durchs Dorf. Eine jede weiß, wo sie abbiegen muss, um den heimatlichen Stall zu finden. Bald darauf kommt der Metzger mit einem großen Eimer auf den Dorfplatz, pfeift laut und durchdringend und wirft den herbeieilenden Hunden ihr abendliches Futter vor die Füße.


    In der Herberge suchen wir uns ein Stockbett möglichst weit entfernt vom Bett der Französin. Außer uns drei Frauen sind noch zwei Männer hier. Ein durchtrainierter Engländer bzw. Waliser, etwa Mitte 40, der uns erzählt, dass er heute die ganze Strecke aus Lubián hierhergelaufen ist und, dass am Pass A Canda der Schnee inzwischen einen halben Meter hoch liegt. Der zweite männliche Pilger ist Spanier, ein Bauarbeiter, der in orangenem Bauarbeiter-Outfit mit kurzer Hose wandert. Bei uns heißt er nur Bob, der Baumeister. Er hat keine Ahnung, wie weit er gehen will. Er will das Pilgern nur mal ausprobieren. Die Matratzen sind hier mit wasserdichten, abwaschbaren Bezügen versehen. Das mag ja praktisch und hygienisch sein, angenehm ist es trotzdem nicht.


    Es gibt in der Herberge nur den Schlafraum und die Duschen, keine weitere Sitzgelegenheit, weshalb wir uns den Rest des Tages in der Bar Rosario am Dorfplatz aufhalten. Die Bar ist offenbar das Wohnzimmer des ganzen Dorfes. In der Mitte steht ein Holzofen und alle sitzen drumherum. In der Ecke neben der Tür sitzt eine alte Frau, den Fotos an den Wänden nach zu urteilen, ist oder war sie mal die Besitzerin der Bar. Sie war mal eine sehr schöne Frau. Jetzt sitzt sie scheinbar teilnahmslos in ihrem Eck und rührt sich kaum. Doch manchmal blitzen ihre Augen, wie in Erinnerung längst vergangener Tage. Zum Abendessen werden wir in eine andere Bar geschickt und es sieht so aus, als ob alle Besucher mit uns zusammen das Lokal wechseln. Wir werden auch in der zweiten Bar wieder von den gleichen Personen bedient und man setzt uns einen Eintopf vor, der zum Glück weitaus besser schmeckt als er riecht. Es kostet mich große Überwindung diesen Eintopf überhaupt zu probieren!

  • 11. April 2018


    Wir steigen heute kontinuierlich von 1080 m auf 460 m ab. Dabei passieren wir einige Dörfer abseits der neuen Bahntrasse, die allesamt vom Zerfall gezeichnet sind. Wir lassen uns viel Zeit, die 14 km bis Laza gleichen eher einem Spaziergang. Die Wolkendecke reißt alsbald auf, der leichte Wind weht die letzten Nebelfetzen davon und die Sonne kommt heraus. Die Straße führt an tief eingeschnittenen Tälern entlang durch herrliche Kiefernhaine. Erstmals seit Tagen können wir die Landschaft um uns herum so richtig genießen.


    Bereits beim Betreten des Dorfes Eiras hören wir Musik, die offensichtlich aus einem Radiogerät strammt, was uns sehr verwundert, da auch dieses Dorf wie ausgestorben wirkt. Doch schon in der nächsten Kurve entdecken wir des Rätsels Lösung. Boxenstopp! Unter einem Balkon hängt das Radio, darunter steht eine Bank und ein Tisch und auf diesem findet man alles, was ein Pilgerherz höherschlagen lässt: Obst, kalte Getränke, Müsliriegel, Kekse, Schokolade, Kaffee und Tee in Thermokannen, Blasenpflaster, Sonnencreme (!). Bei hochsommerlichen Temperaturen sicher beliebt bei durstigen Pilgern. Und das alles gegen Spende!


    Wir nutzen die kurze Rast und ordern via Smartphone unser Zimmer für die kommende Nacht in Laza. Wir haben beschlossen, dass wir nicht in der Pilgerherberge in Alberguería übernachten wollen. Das ist nämlich auch wieder eine Kultherberge und wir haben von der letzten noch die Schnauze voll. Unsere Körper sehnen sich nach einer Nacht in einem ordentlichen Bett in einem schönen warmen Zimmer, ohne Schnarcher und ohne nasse Männerunterhosen und -socken auf der Heizung. Wir kommen bereits mittags in Laza an und können erst in einer Stunde einchecken. So steht es zumindest auf dem Schild an der Haustür. Doch wenige Minuten nachdem wir uns auf der Bank unter dem Vordach niedergelassen haben, kommt die Oma des Hauses und ruft sofort ihre Tochter an, damit diese uns in Empfang nimmt. Die Oma spricht übrigens ein bisschen Deutsch und ist in ihrem Morgenmantel und den frisch frisierten lila-rosa Haaren eine auffallende Erscheinung.


    Die Pension liegt am Ortsrand und nachdem wir uns ein bisschen frisch gemacht haben, schlendern wir durch das Dorf und kehren immer mal wieder in ein Café oder eine Bar ein. Als uns dann ein Taxi überholt und gleich darauf in einer großen Garage verschwindet, zögere ich nicht lange, diesem zu folgen und den Fahrer zu fragen, ob er uns am nächsten Tag um 9:00 Uhr an der Pension abholen und die 12 Kilometer bis zum Bergdorf Alberguería hinauffahren kann. Macht er, aber erst um 9:30 Uhr, weil er vorher schon eine Tour fährt und dann einen weiteren Pilger zusammen mit uns nach Alberguería fährt. Auch recht!

    

    Wir suchen ein Restaurant, aber da es fürs Essen um 19 Uhr noch zu früh ist, landen wir wieder einmal ein einer Kneipe und trinken wenigstens was. Beim späteren Abendessen im Restaurant lernen wir dann noch drei weitere Pilger kennen und es stellt sich heraus, dass einer davon, ein Engländer, in der gleichen Pension wohnt, wie wir. Er prahlt ziemlich damit, wie viele Kilometer er täglich zurücklegt. Nun, soll er, wir halten ihn nicht auf!

    12. April 2018


    Das Frühstück müssen wir uns im Aufenthaltsraum nicht nur selbst herrichten, wir mussten es gestern sogar selbst einkaufen. Wir hören, wie Brian, der englische Pilger, sein Zimmer verlässt und die Treppe hinuntergeht. Anscheinend will er schon los, doch nach wenigen Augenblicken ist er wieder da und frühstückt mit uns. Kurz vor halb zehn verabschiedet er sich von uns und meint, er müsse sich beeilen, sonst schaffe er seine heutige Etappe nicht. Schnappt seinen Rucksack und verschwindet. Wir folgen ihm nach ein paar Minuten, denn wir wollen den Taxifahrer nicht warten lassen. Und wer steht da unter dem Vordach mit Rucksack und drei Koffern und wartet auch auf das Taxi? Unser fleißiger englischer Pilger! Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass er sich mit uns das Taxi teilen soll. Zusammen fahren wir im Nebel die unübersichtliche Bergstraße hoch und sind froh, dass wir hier nicht zu Fuß unterwegs sind. Es gibt nämlich nur diese Straße hier rauf, keinen Wanderweg, Feld- oder Waldweg. Und bei dem Verkehr und den Sichtverhältnissen ist eine Wanderung auf dieser Straße nicht gerade ungefährlich.


    In Alberguería steigen wir beide aus und holen unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum. Brian bleibt sitzen und sagt, bei dem Wetter fährt er noch ein Stück weiter. Der Taxifahrer raunzt mir zu, dass der Engländer gar nicht pilgert, sondern nur mit dem Taxi fährt. Er hat ihn gestern schon 40 km vor Laza abgeholt und hatte da schon von ihm den Auftrag erhalten, ihn heute wieder abzuholen und nach Xunqueira in die nächste Herberge zu fahren. Als wir ihm sagen, dass die Herberge in Alberguería etwas Besonderes ist, das man sich nicht entgehen lassen soll, steigt er aus, lässt den Taxifahrer aber warten. Wir trinken alle einen Kaffee in der Bar, die restlos mit Jakobsmuscheln ausgekleidet ist. Decke, Wände, Mittelsäule, der Wirt hat sogar Zwischenwände eingezogen, damit die Muscheln alle Platz finden. Auf jeder Muschel steht der Name eines Pilgers und das Datum, an dem er hier in der Herberge bzw. Bar gewesen ist. Auch wir erhalten eine Muschel und einen Filzstift und verewigen uns. Brian schreibt stolz sogar einen ganzen Roman in seine Muschel.

    Der Wirt und der Taxifahrer diskutieren gerade, zu welchem Weg sie uns ab hier raten sollen. Die Straße ist auch auf den nächsten Kilometern sehr unübersichtlich, die Wald- und Feldwege, über die der Jakobsweg nun wieder verläuft, sind dagegen vom vielen Regen aufgeweicht. Wir haben uns aber schon für die Feldwege entschieden. Das heißt eigentlich: ich habe entschieden! Wir verabschieden uns, während Brian noch immer die Muschelinschriften studiert, und bereits nach wenigen Schritten ist das kleine Dorf hinter uns im Nebel verschwunden.


    Weil wir auch heute Zeit haben und keine anstrengenden Aufstiege mehr vor uns liegen, erlauben wir uns ganz spontan einen Umweg von angeblich 500 Metern, über einen angeblich schönen Weg, zu einem versteckt liegenden Anwesen im Wald. An einem Abzweig wird in mehreren Sprachen auf dieses Anwesen hingewiesen, das angeblich Essen, Getränke und Übernachtungsmöglichkeiten anbietet und in dessen unmittelbarer Nähe es einen angeblich 1000jährigen Baum geben soll. Den wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Was ich dabei übersehe und erst viel später auf den Fotos bemerke, ist das Holzschild, das quer über die rechte obere Ecke der Hinweistafel genagelt ist, und auf dem steht: CERRADO/CLOSED/GESCHLOSSEN. Der Weg ist zunächst sehr schön, dann sehr matschig und wir weichen vom Weg in den Wald aus. Dabei stolpern wir dann eher zufällig über den 1000jährigen Baum, der schon imposant anzusehen ist. Wir stellen aber fest, dass wir Bäume dieser Art schon öfter auf unserem Weg gesehen haben. Waren die alle 1000 Jahre alt?


    Heute ist der Tag der schönen Gartenmauern und Gartentürchen. Wir treffen auf Steinmauern, die aus den unterschiedlichsten Steinen errichtet wurden, allesamt mit roten oder hellblauen Türen. Auch die Pfeile, die uns den Weg weisen, bestehen aus verschiedenen Materialien, wie Steine, Holz und Fichten- oder Pinienzapfen.


    Gegen Mittag beginnt es zu regnen und wir erreichen gerade noch trocken den Ort Vilar de Barrio und genehmigen uns ein Bier und einen Kaffee in der Bar. Dabei befinden wir uns in allerbester Gesellschaft, denn die komplette Polizeistaffel der Region scheint hier ihre Mittagspause zu genießen. Als die Polizisten wieder weg sind, kommen die Männer von der Müllabfuhr. Entweder ist die Bar bei den Einheimischen so beliebt, oder es ist die einzige Bar am Ort. Als der Regen aufhört, setzen wir unseren Weg fort.

    Kurze Zeit später stehen wir vor unserem ersten wirklich großen Hindernis. Der Weg vor uns ist auf gesamter Breite und ca. 200 Meter weit überschwemmt. Rechts und links des Weges ist jeweils ein Graben, in dem das Wasser mit beachtlicher Strömung dahinschießt. Wie tief der Graben ist, wollen wir lieber nicht erproben. Da hilft jetzt nur: Schuhe aus und durch! Und das bei einer Lufttemperatur von gerade einmal 5°C.


    Ich tausche also die Wanderschuhe gegen meine Trekking-Sandalen und frage Roswitha, die etwas unschlüssig neben mir steht, ob sie Hilfe braucht. Sie verneint und ich stapfe mutig durch die Fluten. Nach ca. 50 Metern drehe ich mich mal um und sehe, dass Roswitha noch immer am gleichen Ort steht und mich fotografiert. Dann zieht auch sie ihre Wanderstiefel aus und schlüpft in ihre Flip-Flops. Ich beeile mich daraufhin, durch diese Riesenpfütze zu kommen, wobei mir das Wasser an mancher Stelle bis über die Knie reicht. Auf der anderen Seite angekommen, werfe ich Schuhe, Rucksack und Stöcke einfach mitten auf den Feldweg, um zu Roswitha zu eilen, weil ich mir vorstellen kann, dass sich die Durchquerung der Überschwemmung mit Flip-Flops etwas schwierig gestalten könnte.


    Doch Roswitha ist nicht mehr da! Ich schaue rechts ins Feld hinter dem Graben – nichts. Links vom Graben kann sie eigentlich nicht sein, denn da ist dichtes Gestrüpp. Panisch suche ich mit den Augen die Gräben rechts und links des Weges ab und fürchte schon, dass sie da reingefallen ist und weggeschwemmt wurde. Doch ich kann sie nirgends sehen. Ich will gerade durch diesen See zurückeilen, da springt sie mit einem beherzten Satz von links über den Graben auf den überschwemmten Weg zurück. Schlammbespritzt bin zu den Knien kommt sie etwas später bei mir an. Sie hat sich den Weg durchs Wasser sparen wollen, ist über den Graben gesprungen und sofort im Ackerboden bis zu den Knien versunken. Mühsam hat sie sich dann trotzdem ihren Weg bis zu dem Gestrüpp gebahnt, aber dort war weder ein Weiterkommen, noch konnte sie an der Stelle über den Graben auf den Weg hüpfen. Sie musste die ganze Strecke wieder durch den tiefen Ackerboden zurück und dann doch durch die Pfütze waten.


    Wir sind gerade wieder bei meinen Schuhen und dem Rucksack angekommen, als aus einer Querstraße ein Auto auftaucht. Der Fahrer und sein Beifahrer fragen besorgt, ob sie uns irgendwohin bringen sollen. Nun, wir sind ja jetzt schon durch, ich habe aber gesehen, dass in einiger Entfernung noch zwei Pilger auf die Überschwemmung zusteuern und ich bitte unsere verhinderten Retter, doch wenigstens diese beiden trockenen Fußes über den Weg zu bringen. Sie bestehen darauf, dass wir zu ihnen ins Auto einsteigen sollen, weil die Überschwemmung hier noch nicht zu ende ist, sondern weitaus größere Ausmaße hat, als es scheint. Im Jeep geht es dann erneut durch die Pfütze und wir lesen die beiden Pilger auf, die sich zu uns auf die Rückbank quetschen. Und wieder zurück durchs Wasser. Etwa eineinhalb Kilometer weiter lassen die beiden uns dann am Beginn einer kleinen Steigung aussteigen. Die zwei Pilger murmeln etwas von wegen „sie hätten das schon auch laufen können“, verabschieden sich kurz und eilen weiter. Undank ist der Welten Lohn! Zuvor macht allerdings einer der beiden mit meinem Handy ein Foto von uns und unseren Rettern, der Fahrer des Wagens gibt mir seine Handynummer und bittet mich, ihm das Foto zu schicken. Mache ich natürlich und – mache ich nie wieder! Es soll ein halbes Jahr dauern bis mir der Mann, der etwa fünf Jahre älter ist als ich, nicht mehr ständig schreibt. Wir kehren nach einer Stunde in einer Bar ein und werden sofort freudig begrüßt. Die Wirtin hat bereits das Foto von uns und unseren Rettern auf ihrem Handy.

    Die restlichen Kilometer bis zur Herberge von Xunqueira de Ambía führen schließlich durch einen 1000jährigen Wald. Gut, dass wir uns am Vormittag den 1000jährigen Baum angesehen haben, sonst hätten wir diese Prachtexemplare hier nicht als solche erkannt.


    Und dann haben wir es endlich geschafft. Wir erreichen die Herberge etwa 15 Minuten vor der Zeit, die ich mit dem Taxifahrer, der uns nach Ourense bringen soll, vereinbart habe. Wir haben nämlich keine Lust, bis zum letzten Tag zu laufen, noch dazu durch hässliche Vorstadtsiedlungen. Wir wollen auch noch ein paar Tage Erholung haben. Bevor das Taxis kommt, schauen wir uns in der Herberge noch etwas um und werden dabei von den beiden Pilgern von vorhin angenehm überrascht. Die beiden haben von Bob, dem Baumeister, der ebenfalls in der Herberge ist, erfahren, vor welchen Unannehmlichkeiten wir sie heute bewahrt haben. Ihnen war das gar nicht so bewusst, sagen sie. Erst als sie Bobs Klamotten sahen, haben sie das Ausmaß dieser Überschwemmung erkannt. Die beiden bedanken sich nun überschwänglich bei uns und wollen für uns kochen. In dem Moment kommt unser Taxi und bringt uns nach Ourense.


    Wir quartieren uns in einem Hotel nahe der Thermalquelle „Burgas“ ein und statten dieser umgehend einen Besuch ab. Roswitha hat dank ihrer Flip-Flops keine Probleme beim Einlass in diese öffentlich und kostenlos zugängliche Thermal-Badeanstalt im Freien, mitten in der Fußgängerzone. Mir wird dagegen der Einlass vom Bademeister verweigert, weil ich solche eben nicht vorweisen kann. Barfuß oder mit Trekking-Sandalen darf man nicht rein. Doch man kann sich Flip-Flops ausleihen. Porentief sauber und gut durchgewärmt schauen wir uns danach die Markthallen an.

    

    Bei einem vorzüglichen Abendessen mit Pulpo, Jakobsmuscheln und einer Flasche Rotwein lassen wir den Tag im Casa do Pulpo ausklingen und feiern das gute Ende unserer Pilgerreise.


    Freitag, 13. April 2018


    Wir frühstücken am Parque San Lázaro und besichtigen dann die Kathedrale und den Friedhof am Kloster San Franzisco. Die Herberge, in der wir unsere Credencials abstempeln lassen wollen, hat um diese Zeit ihre Pforte noch nicht geöffnet. Daraufhin holen wir in der Kirche Santa Eufemia einen Priester aus dem Beichtstuhl, damit wir doch noch zu dem Abschluss-Stempel für unsere Pilgerausweise kommen. Um die Mittagszeit verlassen wir Ourense und fahren mit dem Zug nach Santiago de Compostela, wo wir am frühen Nachmittag eintreffen und zunächst unsere gebuchte Unterkunft suchen. Mit der Pension Entrecercas haben wir eine wirklich gute Wahl getroffen – sauber, ruhig, gemütlich, freundliches Personal, zentral gelegen, nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt, und das alles für 57 Euro die Nacht (für zwei Personen) incl. Frühstück. Wir werden zwei Nächte hier bleiben, weil Roswitha vor unserer Reise noch nicht wusste, ob sie ein zweites Mal mitkommen wird, aber dennoch Santiago und die Kathedrale gerne sehen würde.


    Wir bringen lediglich die Rucksäcke aufs Zimmer und suchen uns erst einmal ein Lokal, wo wir eine Kleinigkeit zu Mittag essen können. Danach besichtigen wir die Kathedrale, Roswitha holt sich im Pilgerbüro einen Stempel fürs Credencial, und schließlich sitzen wir während der Pilgermesse in der Kathedrale, hören dem wunderbaren Gesang einer Ordensschwester zu und ducken unsere Köpfe vor dem bis zur Decke schwingenden großen Weihrauchkessel – dem Botafumeiro.

    

    In einer der vielen Tapasbars rund um die Kathedrale gönnen wir uns am Abend noch ein Gläschen Wein und ein paar Tapas – ich glaube insgesamt waren es 15 – und stolpern auf dem Heimweg noch über eine lustige Musikantengruppe. So wird es denn wesentlich später als ursprünglich geplant, aber uns drängt ja nun nichts mehr.

    14. April 2018


    Wir schlendern heute auf dem Camino Francés Richtung Porta do Camino, staunen, was es auf dem Markt Abastos alles zu sehen und zu kaufen gibt, besuchen einen Park mit wunderschönem Blick auf die Stadt und die Kathedrale und essen schließlich in einem Restaurant neben dem Palacio Reyes Catholicos zu Mittag. Zum Restaurant gehört auch eine Pension, wo man für ein Doppelzimmer 220 Euro die Nacht zahlt. Und es ist dort nicht so schön wie in unserer Pension und näher an der Kathedrale ist man auch nicht. Es wohnen aber nur Deutsche dort.


    Am Nachmittag begutachten wir auf der Praza do Obradoiro die ankommenden Pilger und sehen mit sicherem Blick, wer davon wirklich „gepilgert“ ist und wer wohl nur ein paar Kilometer hinter sich gebracht hat. Im Benediktinerinnen-Kloster soll man lt. Flyer während des Abend-Gottesdienstes den gregorianischen Gesängen der Ordensfrauen lauschen können. Darauf freuen wir uns den ganzen Tag schon. Die Messe ist nur wenig besucht und die Stimmen der Nonnen waren vor 50 bis 60 Jahren bestimmt auch mal kräftig und schön. Der Anstand verbietet uns, bereits nach wenigen Minuten die Flucht zu ergreifen. So halten wir tapfer durch bis zum Schluss.


    Ein letztes Mal schlendern wir über die Praza do Obradoiro – den Kathedralplatz – hören noch einmal den diversen Straßenmusikern zu und genießen die galicische Küche. Später heißt es dann Rucksack packen, denn morgen müssen wir früh los.

    15. April 2018


    Die Pilgerreise ist vorbei! Um die 300 km haben wir in diesen beiden Wochen zurückgelegt. Das Wetter hätte wahrlich etwas besser sein können. Aber hätten wir diese Reise dann genau so empfunden? Es wäre mit Sicherheit eine gänzlich andere Wanderung gewesen!

    Jede Reise hat ihren eigenen Reiz, ihr eigenes Abenteuer. Wer kann sagen, was wir alles erlebt hätten, wären wir auf den vielen baumlosen Wegen bei stechender Sonne und glühender Hitze unterwegs gewesen. Die Rucksäcke wären auf jeden Fall schwerer geworden, hätten wir mehr Trinkwasser mitnehmen müssen.


    Im nächsten Jahr ist keine Fortsetzung unserer Pilgerfahrt vorgesehen. Wir haben andere Pläne. Aber wer weiß, vielleicht fängt es ja irgendwann wieder zu kribbeln an! Wenn der Blick immer öfter zum Rucksack wandert, es uns in den Füßen juckt und man daran denkt, dass es von Ourense bis Santiago nur noch gute 100 km sind.


    Und dann – Finistere! Wer weiß?


    Wer weiß!

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